Gemeinwesen Gruppe
Stefano Borselli • Giacomo Di Meo • Stefano Isola • Alberto Lofoco
Minimale Theorie des Abstraktionsprozesses
Vorabversion
0.9.7 (9. September 2025)
« Certitude: Adhérence à l’éternité »
Jacques Camatte (Glossaire).
In memoriam.
Vorwort
Dieser Text ist eine notwendigerweise unvollständige Darstellung - minimal genannt, weil sie willkürliche Erklärungen unbekannter Mechanismen und Situationen vermeidet - eines Prozesses, der uns seit Jahrtausenden durchläuft, und von Konzepten, die bereits formuliert wurden, einige von ihnen sehr alt, ein Zeichen dafür, dass der Prozess von Anfang an intuiert wurde. Es geht hier darum, dem, was von Menschen gesehen und gesagt wurde, die oft ihr ganzes Leben diesen Überlegungen gewidmet haben, eine Form, eine Kohärenz und eine eindeutige Sprache zu geben: Einige ihrer Formulierungen wurden in Anerkennung ihrer Präzision einfach übernommen. Einige Namen seien hier genannt: Lao Tze und Epikur, die alten Meister; und unter den Modernen Karl Marx, Lewis Mumford, Martin Heidegger, Alfred Sohn-Rethel, Guy Debord, Ivan Illich, Jerry Mander, Jean Baudrillard, Jacques Camatte. Einige der Modernen haben sich in ihrer schriftlichen Produktion auch für den Prozess eingesetzt, den sie zu bekämpfen vorgaben, aber im theoretischen Rahmen zählen nur die Konzepte und nichts anderes, weshalb sie hier aufgeführt sind. Andere sind es nicht, obwohl sie entscheidende Worte geschrieben haben; das heißt, sie haben sich nicht in Büchern geäußert, sondern in Gesten, in Formen, in der Lebensweise.
Sie ist eine Diagnose, kein System: Sie folgt mit ihrer eigenen Metrik dem genealogischen Faden der Abstraktion, der sich durch Religion, Staat, Kapital, Technik zieht. Manche Begriffe tauchen auf, bevor sie geklärt sind, und müssen in ihrer Entwicklung verfolgt werden. Die abschließende Postilla tröstet nicht, sondern weist, indem sie die Schwere der Diagnose selbst anerkennt, den stets präsenten Weg zur aktiven Annahme.
Anthologie
0. Abstraktion
Unter Abstraktion ist hier nicht der einfache mentale Akt zu verstehen, ein oder mehrere Elemente der Wirklichkeit herauszulösen und hervorzuheben, um sie eingehend zu untersuchen, ohne dabei die Ganzheit unserer Präsenz oder die notwendige Bildung von Begriffen zu verlieren; sondern vielmehr die Subtraktion der menschlichen Erfahrung von der sinnlichen und relationalen Wirklichkeit, um sie in etwas Getrenntes, Wiederholbares, Kombinierbares, Implementierbares und als technisches Objekt Handhabbares zu verwandeln. Die Abstraktion, von der hier die Rede ist, ist jene, die einen Aspekt der Wirklichkeit auf reinen Begriff reduziert; die gelebte Realität durch Repräsentationen und Simulakren ersetzt; den Krug in ein bloßes Gefäß verwandelt und den Menschen in ein Gespenst, ein Gefäß der linearen und mechanischen Zeit; die sinnliche, affektive und territoriale Verbindungen kappt; die Freude an der Präsenz verdrängt und sie in immer zukünftige Hoffnungen verschiebt (die Erlösung, les lendemains qui chantent). ¶ Doch Abstraktion ist nicht nur Verflüchtigung: sie erzeugt konkrete Wirklichkeit. Geld, Staat, Medien sind inkarnierte Abstraktionen; sie wirken auf das Imaginäre und auf die Körper, indem sie ihre eigene Ordnung aufzwingen.
Anthologie Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Karl Marx, Jacques Camatte, Jerry Mander, Ivan Illich, Gianni Collu
1. Auf dem Weg des Tages. Beobachtete Tatsachen
Im Licht des Tages, in der bloßen Evidenz des Gemeinsamen, tritt eine Gegenwart hervor, die der herrschenden Erzählung widerspricht: von der Misere der Moderne bis zum Verlust der Kreativität, von allgemeiner Angst bis zur zunehmenden Abschottung. Es sind sprechende Symptome, die eine Mehrheit nicht hören kann oder nicht hören will. ¶ Von der Nacht, vom Unkenntlichen, sprechen wir hier nicht, um den Schatten keine Gestalt zu geben.
Anthologie
1.1. Armut der Alten und Reichtum der Modernen oder umgekehrt? Umgekehrt
Die gängige Erzählung ist nach wie vor die kontrafaktische, historische: Armut sei etwas Archaisches, Reichtum etwas Modernes. Die anthropologischen Erkenntnisse der letzten fünfzig Jahre zeigen das Gegenteil. Die alten und primitiven Gesellschaften – jede anders als die andere und keine davon paradiesisch: frei von Konflikten, Macht und Gewalt ist nur die ideologische Karikatur des edlen Wilden – wurden als „arm” bezeichnet, wiesen jedoch eine Wirtschaft des Überflusses auf: Freizeit, nicht kommerzialisierte Beziehungen, Vertrauen in die spontane Fortpflanzung des Lebens, intensive Erfindungsgabe. In modernen Gesellschaften ist der angebliche Überfluss eine extreme Form des Elends: relational, sinnlich und genussvoll, gegründet auf programmiertem Mangel, systemischem Wettbewerb, zwanghafter Produktivität und der Unmöglichkeit, inne zu halten.
Anthologie Henry David Thoreau, Marshall Sahlins, Jean Baudrillard, Guy Debord, Juliet B. Schor , Jaime Semprun, David Graeber & David Wengrow
1.2. Vergänglichkeit der Unmittelbarkeit und Verlust des Einfachen
Die Unmittelbarkeit — der direkte Kontakt zu den anderen und zur sinnlichen Wirklichkeit — und das Einfache — die elementare Form der Erfahrung — schwinden zunehmend. Lebensformen, einst unentgeltlich und voller Sinn — wachsen, lernen, kämpfen, sich nähren, zeugen — werden zersetzt, vermittelt, umgedeutet in techno-produktiven Logiken. Der Prozess vereinfacht nicht: er reduziert. Das Einfache ist nicht das Kleine, sondern das, was sich in seiner unmittelbaren Fülle schenkt: das Licht auf einer Wand, das Geborenwerden und das Sterben. Wenn die Sinne sich schließen — durch Ablenkung oder Überfülle — erscheint das Einfache als Uniformes. Das Uniforme langweilt. Wer in die Langeweile fällt, findet nur Monotonie. So vergeht das Einfache, und mit ihm seine stille Kraft.
Anthologie François-René Chateaubriand, Martin Heidegger, Jean Baudrillard, Ivan Illich, Jacques Camatte
1.3. Verschwinden der Kreativität
Die Fähigkeit, mit Händen und Sprache etwas zu schaffen, ist ein Grundpfeiler der menschlichen Ausdruckskraft, doch sie verkümmert allmählich. Seit jeher haben Männer und Frauen in der täglichen Schöpfung gelebt, in Gesten, Worten und Gegenständen, die ihrem Dasein einen Sinn gaben, weil sie aus der unmittelbaren, praktischen und emotionalen Beziehung zu ihrer Umgebung entsprangen und den lebenswichtigen Bedürfnissen des Alltags entsprachen. Beeren sammeln und einen Korb bauen, der größer ist als die eigenen Hände, sie an einen anderen Ort transportieren, dann zerkleinern und essen – einfache Gesten, die dem Tag Sinn und Fülle verliehen. Mit der Arbeitsteilung beginnt man, ganze Teile des Lebens an bestimmte Mitglieder der Gemeinschaft zu delegieren, die sich auf einen Bereich spezialisieren und sich damit unweigerlich anderen Bereichen verschließen. Mit dem Aufkommen der Maschinen erreicht die Entfremdung von der Kreativität ihren Höhepunkt, und mit der endgültigen Maschine, die künstliche Intelligenz unterstützt, verschwindet auch die Fähigkeit, Sprache und Gedanken zu schaffen. ¶ Seit Jahrtausenden begleiten Gesang und Tanz das Leben von Männern und Frauen. Es handelte sich dabei nicht um Fertigkeiten, sondern um Formen der Präsenz. Man sang und tanzte überall: in Gruppen oder allein, jung und alt, bei alltäglichen Handlungen oder Übergangsriten – Geburten, Todesfälle, Hochzeiten, Feste. Es waren gemeinsame und kontinuierliche Praktiken, die Arbeit, Ernährung, Trauer und Feierlichkeiten miteinander verbanden. Das individuelle Singen war Ausdruck offensichtlicher Freude. Der Tanz, auch wenn nur angedeutet, signalisierte die Vitalität des Körpers. Heute sind diese Praktiken aus dem realen Leben verschwunden. Sie überleben entstellt in der Show- und Unterhaltungsindustrie, unter den vielen, die bereits von der Kombinationslogik absorbiert wurden – oder dazu bestimmt sind, es zu werden.
Anthologie
1.4. Einsamkeit und Ekstase der Promiskuität
In der heutigen Welt erleben wir eine neue und paradoxe Form der Einsamkeit: Einsamkeit inmitten der Menschenmenge, genährt durch ständige Nähe. Die Städte, Verkehrsmittel und öffentlichen Räume sind voller Körper, die sich nicht berühren, Augen, die sich nicht ansehen, Stimmen, die nicht zuhören. In den alltäglichen Gesten – essen, gehen, warten – vervielfacht sich eine Einsamkeit, die keine Isolation ist, sondern gegenseitige Abwesenheit in realer Anwesenheit, Nähe ohne Verbindung. Promiskuität als reine physische Ansammlung, die Menschenmenge, erzeugt keine Beziehung, sondern Sättigung: eine Art magnetische Ekstase ohne Ausweg, die die Einsamkeit verstärkt, anstatt sie zu lindern.
Anthologie Edgar Allan Poe, Jean Baudrillard
1.5. Generalisierte Angstzustände und Depressionen
Angst und Depression sind keine Ausnahmezustände mehr, sondern zyklische Pole der gewöhnlichen Existenz in der Leistungsgesellschaft. Der Mensch, zur Firma seiner selbst geworden und gezwungen, sein Überleben als Humankapital zu maximieren, nährt seine Angst durch die ständige Pflicht zur Selbstverwertung: Jeder Lebensbereich unterliegt Marktlogiken, die verlangen, begehrenswert, effizient und wettbewerbsfähig zu erscheinen. Der persönliche Wert wird in Echtzeit anhand von Erfolgen, Selbstbildern und Erzählungen gemessen, was eine chronische Spannung erzeugt. Die Depression entsteht als Folge der Entwertung: Unsichtbarkeit und Niederlage im Wettbewerb stürzen das Individuum in einen subjektiven Zusammenbruch, in dem psychischer und symbolischer Bankrott zusammenfallen. Die unaufhaltsame Ausbreitung von Psychopharmaka und die zunehmende Selbsttötung, bereits im Vorjugendalter, sind ein unwiderlegbares Zeugnis dafür.
Anthologie Giorgio Cesarano & Gianni Collu
1.6. Kontrolle und Überwachung
Kontrolle ist nicht mehr äußerlich und punktuell, sondern dauerhaft: sie dringt in jeden Augenblick ein und umfasst jeden Aspekt des täglichen Lebens. Jede Geste, jedes Wort, jede Bewegung kann verfolgt, gemessen und aufgezeichnet werden. Überwachung ist keine Ausnahme mehr, sondern eine verbreitete Praxis, integriert in die alltäglichen Technologien. ¶ In Kindheit und Jugend verhindert das ständige Eingreifen bei jeder Geste, jedem Wort oder Konflikt — auch dem kleinsten, verbalen oder nur gestischen — die unmittelbare Erfahrung von Beziehungen, die Erprobung von Grenzen und das Erlernen des Umgangs mit den eigenen Kräften und Schwächen. So wird es unmöglich, ein Selbst zu bilden, das fähig ist, sich in der Wirklichkeit zu orientieren und aktiv an der Gemeinschaft teilzunehmen.
Anthologie Alexis de Tocqueville, Juan Donoso Cortés
1.7. Eingeschlossen sein
Die Existenz findet in zunehmend isolierten und bewachten Räumen statt. Der Zustand der Hikikomori ist keine marginale Pathologie: Er erscheint als Schicksal. Immer mehr Menschen leben tagelang, ja ein ganzes Leben lang, in geschlossenen Räumen. Bis vor einigen Jahrzehnten war der Zustand der Mehrheit der Menschheit jedoch nicht städtisch: Sie lebten im Freien, in Kontakt mit der Erde, inmitten gemeinsamer Geräusche und Gerüche, in der aristophanesken Penía, der lebendigen, geteilten Armut, die die Freude an der Gegenwart nährte. Die Bäume waren ganz in der Nähe, ebenso wie die wilden Tiere, die immer wieder in den Raum des Wohnens und Arbeitens eindrangen. Aber auch das städtische Leben war etwas anderes: Welch ein Unterschied zwischen einem neapolitanischen Basso mit offener Tür zur Straße - aus dessen Fenstern Liszt noch immer die Töne von Fenesta vascia hören konnte - und einer Wohnung im sechzehnten Stock, die nur mit dem Aufzug zu erreichen war. Stock, die nur mit dem Aufzug zu erreichen war. Das Einsperren von Kindern und Jugendlichen, einst das Unglück einiger weniger (kranker oder wohlhabender) Menschen, heute die Mehrheit, ist also die Grundlage des kognitiven Schismas, das weiter unten behandelt wird. Wie viel Leben fehlte in der Kindheit von Giacomo Leopardi, der in einem Rosengarten weder Düfte noch Farben, kein Gewimmel von geflügelten und kriechenden Kreaturen sieht, sondern nur Verfall und Tod? Oder die von Charles Baudelaire, der den künstlichen Geruch von Benzoe dem einfachen Duft von Rosen und Veilchen vorzog? Welche hysterische Wahrnehmung hinderte den kleinen Eugenio Montale daran, jenen „kaum sichtbaren Glanz, der sich über alle Dinge ausbreitete“ zu erahnen, der Martin Heidegger als Kind erleuchtete, während seine Rindenboote in den Schulbrunnen segelten? Derselbe Glanz, der Vincenzo Bugliani als Kind bei den Rennen mit den kleinen Zucchinibooten in der kleinen Gora des Monte di Pasta einhüllte, die ihm wie das „Paradies auf Erden“ erschien. Montale musste sie, wie Leopardi, als Einsiedler aus der Ferne beobachten, und jene Zipfelmützen, die für den kleinen Martin „noch leicht ihr Ziel erreichten“, sah er nur „in den Strudeln des seifigen Wassers“ Schiffbruch erleiden. Leopardi - und wie er andere Dichter, nicht alle - begreift die Wirklichkeit nicht ‚tiefer‘: er sieht sie weniger. Aus dem Fall der so genannten wilden Jungen folgt, dass sich das Erlernen der Sprache, wenn es innerhalb eines kritischen Zeitfensters fehlt, kaum erholen wird. So ist es vielleicht unwahrscheinlich, dass diejenigen, die in der Kindheit die unmittelbare Kommunikation mit dem Einfachen verpassen - die spontanen Spiele, die unkontrollierten Abenteuer, die Streitereien und Versöhnungen, die sie lehren, andere und die Welt zu fühlen und zu messen -, später die Fülle davon wiedererlangen. Die verpasste Gelegenheit hinterlässt einen Abdruck: Die Wahrnehmung bleibt amputiert, und auf diese Wunde werden mächtige, aber gespaltene Imaginationen aufgepfropft. Diese Dichter verstanden die einfachsten und schönsten Dinge am wenigsten, aber sie besaßen das Genie, eine deformierte Realität zu konstruieren, die den tief sitzenden Unsicherheiten eines jeden Menschen immer noch Substanz verleiht. Gerade deshalb stützt ihre Vision den mächtigen Mythos der Erlösungsbedürftigkeit. So wird Montalian varco zu einer Heilserwartung und Leopardis mütterliche Natur zu einem zu bekämpfenden Feind. Es ist dieses Erlösungsversprechen, ein konstitutiver Bestandteil des Abstraktionsprozesses, das das moderne Imaginäre prägt: Die Realität reicht nicht aus, sie muss bekämpft, überwunden, besiegt werden. Die Einschließung ist also nicht nur physisch, sondern ein Zustand der Seele, die, dazu erzogen, dem, was ist, dem, was gezeigt wird, dem, was berührt wird, nicht zu trauen, nicht mehr weiß, wie sie den Weg des Tages gehen soll, und die, zu einem der Schläfer des Heraklit werdend, in eine private Welt eingehüllt ist.
Anthologie
1.8. Verfall des lebendigen Körpers
Es ist inzwischen offenkundig, dass der Zivilisationsprozess, vor allem im Westen, den Verfall der körperlichen Fähigkeiten hervorgebracht hat. ¶ Posturaler Kollaps: von aufrechten Schultern zur universalen Kyphose; Muskelschwund: von spontaner Spannkraft zur Schlaffheit; Kraft wird nicht mehr benötigt, man träumt vom Exoskelett; Starre des Gesichtsausdrucks: von expressiver Beweglichkeit zum Bildschirm-Gesicht, das Lächeln erloschen; Verlust der motorischen Anmut: von fließenden Bewegungen zur Mechanik der Geste; Stoffwechselentgleisung: der Körper, einst auf Knappheit eingestellt, bricht in künstlicher Fülle zusammen, schwankt zwischen Mangel und Übermaß; Verlust von Gleichgewicht und Propriozeption: vom natürlichen Seiltänzer zum Körper, der auf dem gleichförmigen Gehweg stolpert; Reduktion des Atems: vom vollen Zwerchfell, das körperliche Tätigkeit, Sprache, Gesang begleitete, zum kurzen thorakalen Atem, Begleiter von Angst und Immobilität. ¶ Der Körper wird zum funktionalen Rest, angepasst an Sitz und Bildschirm, gestützt durch Medikamente und Prothesen. Seine Degeneration ist bereits Ware — Diäten, Fitness, Operationen, Nahrungsergänzungsmittel, Beatmungsgeräte — in einem grenzenlosen Markt. Die Gesundheit ist das Herzstück der Systemnarration, die Wohltätigkeit ihre verführerischste Form: die Industrie des kranken Körpers, die sich als Gabe präsentiert.
Anthologie
1.9. Unbegrenzte Kommodifizierung • They have brought whores for Eleusis (E. Pound)
Jeder Aspekt der menschlichen Erfahrung – Emotionen, Beziehungen, Erinnerungen, Identität – kann isoliert, bewertet und in eine Ware verwandelt werden. Selbst das, was einst unverkäuflich war – Gedichte und Geschichten, Worte, Pflanzen- und Tierarten – hat heute einen Preis. Gefühle werden zu Inhalten, persönliche Geschichten zu Verkaufspaketen, Leiden zu einer Mediengelegenheit. ¶ Auch der Körper wird zerlegt und neu zusammengesetzt: Organe, Eizellen, Gebärmütter werden verkauft, die Fähigkeit zur Fortpflanzung wird vermietet, Identität wird gekauft, der Auftritt bei einem Abendessen wird bezahlt. Nichts ist mehr unzugänglich, nichts ist mehr heilig. ¶ Der Mensch ist nicht nur dem Markt ausgesetzt: Er ist zur Ware geworden – angeboten, ausgestellt, monetarisiert, aktualisiert.
Anthologie Karl Marx, Chuck Palahniuk
1.10. Plastifizierung der Sprache
Der Verlust der Beziehung zu den Phänomenen und zur Lebenswelt übersetzt sich in die Plastifizierung der Sprache, wo Plastikwörter – rein konnotativ und ohne definitorische Kraft (z.B. Sexualität, Entwicklung, Kommunikation, Information, Ressourcen, Partner, Dienstleistungen, Governance, Nachhaltigkeit, Resilienz, Inklusion, Kompetenz, Exzellenz) – die Brückenköpfe des Technischen Systems in der Alltagssprache sind, die dadurch in ihrem Reichtum und ihrer semantischen Plastizität kolonisiert und zerstückelt wird. Dieses Phänomen ist Teil einer alten Tendenz, die bereits im Verlust der Unmittelbarkeit der ältesten zivilisatorischen Sprachen gegenüber der performativen und rituellen Dichte oraler Kulturen erkennbar ist. Parallel zur semantischen Verarmung haben die Sprachen eine morphologische Degradation erfahren: das fortschreitende Verschwinden der Fälle, des Duals und subtiler Verbflexionen, ersetzt durch Präpositionen und Hilfskonstruktionen, hat die Wörter starrer und weniger fähig gemacht, Nuancen zu modulieren. So reduziert sich das, was sich einst in unendliche Variationen bog und formte, heute auf standardisierte Sequenzen, transparenter aber auch ärmer. Die zeitgenössische Plastifizierung beschleunigt nur diese Entwicklung, naturalisiert alle Geschichtlichkeit, um sie gegen jede Kritik immun zu machen, und ist wesensgleich mit der Umwandlung der Lebenswelt in ein Laboratorium, mit allen daraus folgenden Konsequenzen hinsichtlich des Verlusts von Unmittelbarkeit und Kreativität.
Anthologie
1.11. Verlust der Lebensfreude • Die Ermordung Epikurs
Vor allem im Westen ist der Verlust des Genusses bereits in den Gesichtern der Passanten abzulesen: jene Fülle der Beziehung zum Lebendigen, zum Kosmos, zu anderen und zu sich selbst. Genießen bedeutet, die Spontaneität des Seins zu integrieren, indem man sowohl das Vorhersehbare als auch das Unvorhergesehene aufnimmt und sinnliche Erfahrung, Freiheit und Kontinuität verwebt. ¶ Diese Kontinuität, die Aufmerksamkeit und Präsenz erfordert, wird durch das allgegenwärtige Rauschen der Medien und Geräte gestört und unterbrochen, durch Leistungs- und Repräsentationsängste abgelenkt, von verbreiteter Depression unterdrückt. So löst sich die Erfahrung vom Körper, die Beziehung reduziert sich auf ein Bild, die Lust beugt sich der Effizienz, die Freude der Unterhaltung, während die notwendige Spontaneität von der Kontrolle vernichtet wird: Der Genuss ist nicht vorhanden.
Anthologie Jacques Camatte
1.12. Metafakt: das kognitive Schisma
Angesichts der oben dargestellten Tatsachen gibt es eine Kluft. Eine Minderheit - selbst in der „intellektuellen“ Welt - sieht sie, auch wenn sie oft versucht ist, sie zu verdrängen. Eine wachsende Mehrheit ist blind und erkennt ihre Bedeutung nicht. Das Missverhältnis ist nachweisbar: eine Stichprobe von Alltagsgesprächen genügt, um es festzustellen. Es handelt sich nicht um ein Faktum unter anderen, sondern um die Art und Weise, wie Fakten wahrgenommen oder ausgelöscht werden: ein Metafakt.
Anthologie Clint Eastwood
2. Entfernte Stufe des Abstraktionsprozesses
Anamnese: Fernverlauf des Prozesses und seine ersten Spuren. Die Abstraktion bricht nicht plötzlich in die Menschheitsgeschichte ein: Sie hat ferne Wurzeln, eine prähistorische Entstehungsgeschichte. Bereits in den ersten Formen der Humanisierung, als sich die symbolischen Fähigkeiten entwickelten und die Sprache sich festigte, begann langsam der Versuch, sich dem chaotischen Rhythmus der Natur zu entziehen und ihn durch künstliche Strukturen von Zeit und Raum zu ersetzen. In dieser embryonalen Phase ist das Symbol – und mit ihm die Sprache, die technische Geste, das Wohnen – noch nicht vom Körper oder der Realität getrennt, sondern beginnt als Instrument der symbolischen Herrschaft zu fungieren. Die Zeit wird nicht mehr als organischer Fluss (Jahreszeiten, Schwangerschaften, Monde) erlebt, sondern als isomorph und auf eine kodierte Abfolge reduzierbar: Kalender, Uhrzeit, Maß. Dasselbe gilt für den Raum, der von einem erlebten Weg ebenfalls homogen, isomorph, zu einem geordneten Raster wird, zuerst im Dorf und dann in der Stadt. Die Domestizierung der Natur erfolgt also in erster Linie auf symbolischer Ebene und geht jeder Infrastruktur oder Maschine voraus. Das Ergebnis ist eine beginnende Form der Regularisierung der Existenz: ein Raum-Zeit-Raster, das die Bühne für die eigentliche Aktivierung des Prozesses bereitet. Diese kann zu Beginn der Jungsteinzeit angesiedelt werden, möglicherweise ausgelöst durch eine reale Bedrohung durch Aussterben, die bereits vorhandene menschliche Dispositionen katalysiert hat.
Anthologie André Leroi-Gourhan
2.1. Human kind cannot bear very much reality (T.S. Eliot)
Die Ablehnung der Realität, verstanden als Übermaß, als zu intensive, unerträgliche Erfahrung, scheint uralt zu sein. Die Realität erscheint als eine Dringlichkeit, ein unerträglicher Druck, den der Mensch zu leugnen, zu verdrängen oder zu neutralisieren versucht.
Anthologie T.S. Eliot
2.1.1. Erschaffung einer imaginären Welt
Die Unfähigkeit, die Realität zu ertragen, führt zur Entstehung imaginärer Welten, privater oder kollektiver, die die gemeinsame Erfahrung ersetzen oder verzerren. Der Geist entzieht sich dem Gemeinsamen und Sinnlichen und konstruiert Fragmente einer autonomen Realität, die inkohärent oder unvollständig sind und sich von der gelebten Welt abkoppeln.
Anthologie Hērákleitos
2.1.1.1. Darstellung • Spektakel
Der von der Erfahrung getrennte Inhalt äußert sich als mythische oder rekonstruktive Erzählung, Ritual, Schauspiel. Ursprünglich betrafen Darstellungen vor allem das Heilige, die Gottheiten, die Figuren der Vorstellungswelt; mit der Zeit wurden sie auch zum historischen Gedächtnis und zur Selbstdarstellung eines Volkes – Kriege, Genealogien, Heldentaten. Mit der Entstehung des modernen Individuums verlagerte sich die Darstellung hin zum persönlichen Erleben, bis hin zu den heutigen Formen, in denen die alltägliche und private Selbstdarstellung zum Spektakel wird – Reality-TV, soziale Medien – und alles, was direkt erlebt wurde, in eine Darstellung entfernt wird.
Anthologie André Leroi-Gourhan, Guy Debord
2.1.2. Verdrängung • Escamotage • Détournement
Die Ablehnung der Realität verwirklicht sich durch psychologische Operationen, die tiefgreifend, kontinuierlich und universal sind. ¶ Die Verdrängung ist die erste davon. Sie verbirgt nicht nur einen Inhalt, sondern verhindert dessen Auftauchen: sie löscht die Spur, bevor sie überhaupt zum Gedanken wird. Der Schmerz, die Zerrissenheit, der Verlust — was nicht ertragen oder benannt werden kann — wird aus dem Bewusstsein ausgeschlossen und bildet und nährt eine Ablagerung, die das Unbewusste genannt wurde. ¶ Das Escamotage löscht nicht, sondern entzieht dem Blick, bleibt jedoch für alle präsent. Was unerträglich oder störend ist, wird umgangen, beiseite gestellt, an den Rand gelassen. ¶ Das Détournement verdrängt nicht, sondern lenkt ab. Der Fluss der Rede oder des Bewusstseins wird unmerklich verschoben, von dem entfernt, was unangenehm ist, durch subtile Techniken der Dislokation. ¶ Diese drei Operationen entstehen als Mechanismen der psychischen Abwehr, verwandeln sich aber in operative Instrumente der Domestikation.
Anthologie Jacques Camatte
2.2. Korrektur der Schöpfung - Bestrebungen zur Erlösung von der „Stiefmutter Natur“
Die Unfähigkeit, die Realität als unerträgliches Übermaß zu ertragen, erzeugt schon in sehr frühen Zeiten die Erwartung einer Veränderung. Diese begleitet die Entstehung der Landwirtschaft, des Staates, der Schrift und entwickelt sich im Laufe der Zeit zur Idee einer Loslösung von der Natur und zum Bau einer neu gemachten Erde, befreit von jeder Grenze: von Gilgameschs Suche nach Unsterblichkeit (vom Epos, das sie erzählt, bereits als Torheit gebrandmarkt, 19. Jh. v. Chr.) bis zur Idee des Tausendjährigen Reiches. Verwandeln ist an sich nicht abstraktiv: jedes Lebewesen verwandelt, und auch der menschliche Impuls zur Verwandlung ist natürlich. Anders ist die Idee, dass eine radikale Trennung von der Natur notwendig sei — bis hin zum Traum irdischer Unsterblichkeit. Diese Idee, die wir im hier geklärten Sinn redemptiv nennen wollen, entsteht als allgemein geträumte und zugleich bekämpfte Sehnsucht und verstärkt sich geschichtlich, bis sie sich im Westen mit dem Religion–Staat-Komplex verbindet. Diese eigentliche redemptive Idee, nicht zu verwechseln mit der eines jenseitigen Weltbereichs, der den archaischen, östlichen, islamischen Religiositäten und dem orthodoxen Christentum fremd erscheint, scheint eine nachweisbare jüdische und augustinische Geschichte zu haben, ganz und gar westlich. Genau genommen: die Idee einer jenseitigen Unsterblichkeit bleibt im Bereich des Unwissbaren (sie kann wahr oder falsch sein, widerspricht aber nicht der Erfahrung), während die der irdischen Unsterblichkeit dem Leben radikal entgegengesetzt ist. ¶ Die Kraft der redemptiven Idee, als normative Bezugnahme angenommen, überträgt sich auf andere abstrakte Ideen — Universelle Rechte, Free trade, Demokratie, Sozialismus, Hierarchie, Gleichheit, Eigentum, Ewiger Friede und Bentham —, die sich als große Verbesserungen präsentieren, als deren Durchgänge und Konkretisierungen, und so die Verurteilung jeder gegebenen sozialen Situation allein kraft ihres Gegebenseins erlauben, ohne je beweisen zu müssen, dass das Neue tatsächlich besser sein wird, und meist entgegengesetzte Folgen hervorbringen: die Heterogenese der Zwecke. Diese Sehnsucht ist daher eines der konstitutiven Triebwerke des Abstraktionsprozesses: ohne das Versprechen der Erlösung hätte er nicht seine militante und visionäre Kraft des Fortschritts und der Reproduktion. Alle redemptiven Sehnsüchte haben zudem die Wirkung, die Zeit in reines Warten zu verwandeln — auf den Messias, auf den geheimen Meister der Alchemisten, auf das Proletariat, auf den Aufstand, auf den Chip.
Anthologie pseudo Alighieri, pseudo Goethe
2.2.1. Unsterblichkeit
Im Herzen der erlösungsorientierten Idee nistet die Hoffnung, die Erwartung, einer möglichen irdischen Unsterblichkeit. Es geht nicht nur darum, die Endlichkeit zu verneinen, sondern ihr Überwinden zu entwerfen: sich vor der Verderbnis zu retten, die Zeit zu überdauern, indem man sie ins Unendliche verlängert; dies ist das verborgene Versprechen jeder heilbringenden Macht. Vom Begehren des Gilgamesch bis zur Auffassung des Todes als Lohn der Sünde, von messianischen und mystischen Erwartungen bis hin zum technologischen Mythos des zeitgenössischen Transhumanismus kehrt immer wieder dieselbe, dem Leben feindliche Hoffnung zurück. Ja, diese Hoffnung, diese Idee, ist ein uraltes und tiefes Wahngebilde: das Verlangen nach Unsterblichkeit, das Versprechen von keinerlei Tränen und Frustration, ist mit dem Leben, mit der gegebenen Wirklichkeit unvereinbar, der sie das Nichts vorzieht. Der Mensch hat versucht, sie zu zügeln, doch es scheint ihm nicht gelungen zu sein.
Anthologie Jonathan Swift, A.E. van Vogt, Ivan Illich
2.2.1.1. Vom vitalen Konflikt zur Feindschaft • Das „Böse“ ausrotten
Die Erlösung schafft den Feind: Was den Sündenfall, das Böse, die Unvollkommenheit verursacht – oder auch nur die Erlösung behindert –, muss vernichtet oder neutralisiert werden: sei es eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch oder ein Volk. Die Beziehung zum anderen basiert nicht mehr auf Beziehung, Zusammenarbeit und Konflikt als lebenswichtige Formen, sondern auf einer abstrakten Ordnung, die eine von jeglicher Negativität gereinigte Welt fordert, in der auch der natürliche Konflikt als lebendige Form der Beziehung ausgeschlossen wird. ¶ Der vitale Konflikt, auch gewalttätig — zwischen Raubtier und Beute, zwischen Gruppen um Territorium, zwischen Individuen und menschlichen Gruppen um Ressourcen oder Herrschaftswillen — antwortet auf konkrete Situationen und erschöpft sich in der Erreichung oder dem Scheitern des Ziels. Die erlösende Feindschaft ontologisiert hingegen den Gegner: nicht mehr dieser Wolf, der die Herde bedroht, sondern „der zu tilgende Raubtier"; nicht mehr diese Gruppe, die um dieselben Ressourcen konkurriert oder dominiert, sondern „das Volk, die Religion, die zu eliminierende Feindklasse". Der Übergang führt von der praktischen Intelligenz — die Situationen bewertet, Gelegenheiten berechnet, der Notwendigkeit gemäß handelt — zum abstrakten Ideal, das jeden besonderen Konflikt in einen ontologischen Kreuzzug verwandelt.
Diese erlösende Dimension, die Feindseligkeit schürt, liegt der modernen wissenschaftlichen Restauration zugrunde, die sich auf einen impliziten und nie realisierten Konflikt zwischen gegensätzlichen Lesarten der Idee der Entdeckung stützt: eine kognitive, die einerseits mit der überschwänglichen und vielfältigen Kreativität verbunden ist, die noch immer in der mittelalterlichen Polytechnischen Schule enthalten ist, und andererseits mit den Ideen und der besonderen Erkenntnistheorie, die aus der griechischen Kultur übernommen wurde, in der wissenschaftliche Hypothesen die Entdeckung durch die Konstruktion theoretischer Modelle realer Phänomene leiten, also eine Interpretation, die sich nicht auf die Untersuchung der Natur an sich konzentriert, sondern vielmehr auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur; Die andere, vorwissenschaftliche Lesart mit dunklen und verzweigten Wurzeln in den Ruinen alter Reiche konzentriert sich hingegen auf die Entdeckung als Eroberung, ein archaischer militärischer Begriff, der auf das Eindringen des Willens des Entdeckers in das Wesen des Entdeckten verweist, wodurch dessen Natur zerstört und es auf sein eigenes Bild reduziert wird. Diese zweite Lesart hat letztendlich die erste untergeordnet und ihr nach und nach ihre Bedeutung genommen, ohne dass es zu einer expliziten Auseinandersetzung gekommen wäre, und dies trotz der Tatsache, dass Entdeckung als Eroberung und Entdeckung als Kultivierung, Wissen und organische Entwicklung zwei gegensätzliche Pole darstellen.
Anthologie Jacques Camatte
2.2.2. Idee der Macht • Totale Kontrolle
Vielleicht aufgrund einer vorneolithischen Krise (ein Trauma der Spezies, dessen Ursprung jedoch spekulativ bleibt: eine rückblickende Hypothese, um den anfänglichen Bruch zu interpretieren) entschied sich die Menschheit dafür, eine von der Natur getrennte Welt zu erschaffen: nicht mehr eine Umgebung zum Leben, sondern eine Realität, die es zu regulieren galt. So entstanden Instrumente der symbolischen Kontrolle: Aufteilung, Messung, Überwachung. Eine neue zentrale Macht entsteht als Prothese gegen die Instabilität des Lebens: Sie bietet Schutz vor Unsicherheit und wird nicht nur als Notwendigkeit, sondern als Grundlage der getrennten Identität verinnerlicht. Jede nachfolgende Regierungsform trägt die Spuren dieser Entscheidung der Vorfahren: die ängstliche Suche nach einer unerreichbaren absoluten Sicherheit als Antwort auf die Angst.
Anthologie Ludwig von Bertalanffy, Cornelius Castoriadis
2.2.3. Egalité • Löschung von Unterschieden
Die zunehmende Durchsetzung der Bewegung des Werts — allgemeines Äquivalent, Geld — führt zur Entstehung der Idee abstrakter Gleichheit unter den Menschen, verstanden als a-priori-Negation qualitativer Unterschiede. Auch am Menschen muss alles messbar werden. Die direkte Beziehung, gegründet auf Konkretheit und somit auf Heterogenität, wird verdächtig. So werden die Grundlagen für die Aufhebung individueller und gemeinschaftlicher Fähigkeiten zugunsten einer höheren Institution gelegt, einzigem Regulator des Handelns, die Beziehung durch eine hypothetische, aber fiktive absolute Äquivalenz ersetzt. Gleichheit fällt so mit der gleichen Unterordnung aller unter die Institution zusammen. Auf diese Weise wirkt individuelle Verantwortung nicht mehr in den Beziehungen zu anderen Menschen und zum lebendigen Organismus, sondern existiert nur noch gegenüber dem Staat: das Näheband wird zugunsten einer Entfremdungsbedingung zerrissen, in der die In-Differenz herrscht. ¶ Das polare Begriffspaar Gleichheit–Unterschied erleidet in der kognitiven und emotionalen Entwicklung, die von der Bewegung des Werts beeinflusst ist, dasselbe Schicksal wie viele andere: Frieden–Krieg, männlich–weiblich, Individualität-Gemeinschaft, operative Indifferenz–Rollen und Arbeitsteilung, Ordnung–Chaos. Die beiden Begriffe werden dissoziiert (das Gegenteil der Yin–Yang-Symbolik), hypostasiert und moralisiert als Gut und Böse, wobei die Notwendigkeit und die natürliche Präsenz — innerhalb ihrer strukturellen, zeitlichen, quantitativen, situativen Grenzen — der Realitäten, die sie beschreiben wollen, ignoriert wird. Es ist ein kognitives Abgleiten mit starken emotionalen Folgen, das die systematische Verunglimpfung von allem, was existiert, mit sich bringt: es wird zum modus operandi. Jeder wahrgenommene Unterschied verwandelt sich in ein zu beseitigendes Unrecht; jede kulturelle Ordnung, die Polaritäten aufnimmt und verwaltet, wird zerstörbar, à merci. Ein antreibender Faktor des Abstraktionsprozesses.
Anthologie Aristophánēs, Karl Marx
2.2.4. Prometheische Schande
Das prometheische Schamgefühl entsteht aus dem Vergleich zwischen der menschlichen Unvollkommenheit und der vermeintlichen Vollkommenheit der technischen Schöpfungen. Der Mensch schämt sich seiner biologischen Zufälligkeit angesichts der Zielgerichtetheit der Maschinen: er schämt sich des Makels, geboren und nicht konstruiert zu sein.
Anthologie Günther Anders, Jean Baudrillard, Jacques Camatte
2.3. Anthropomorphose: Ideen, die erfasst und umgesetzt werden
Einige abstrakte Ideen – Gottheit, Staat, Grundeigentum, Arbeit, Kapital, Erlösung – gewinnen zunächst menschliche Gestalt durch symbolische Darstellungen: Gemälde, Skulpturen, sprachliche Allegorien, die ihnen Gesicht, Namen und Körper verleihen. Anschließend ergreifen sie die wirklichen Menschen, die aufhören, als autonome Subjekte zu existieren, und gleichsam besessen zu lebenden Inkarnationen der Idee werden: der Grundbesitzer, der sich zugrunde richtet im Versuch, das ererbte Land zu bewahren; der Unternehmer, der nur für das Unternehmen lebt; der Missionar und der Aktivist, die zu Maschinen der Erlösungsidee werden; der Träumer, der sich zum Werkzeug eines Ideals der Ur-Hierarchie macht; der Banker, der seine finanzielle Tätigkeit zu einem Mandat der heilsgeschichtlichen Weltverwandlung erhebt.
Anthologie Karl Marx, Fëdor Dostoevskij, Jacques Camatte
2.4. Zu Beginn des Prozesses: Abstrakte Drift vs. alternative Muster
Die Entscheidung der Jungsteinzeit war weder unvermeidlich noch universell. Über Jahrtausende
hinweg existierten beide Optionen nebeneinander: sesshafte Gesellschaften, die sich
auf eine abstrakte Entwicklung einließen, neben Völkern, die organische Lebensformen
beibehielten. Letztere wurden durch systematische Völkermorde nach und nach ausgerottet
und überleben bis heute in immer geringeren Restbeständen. Die folgenden Daten dokumentieren
dies fast am Anfang der Verzweigung.
Kontrollinstrumente
• Streng kodifizierte landwirtschaftliche Kalender (sumerische Tafeln, Uruk III, 3000
v. Chr.).
• Geometrisierung des städtischen Raums (orthogonale Raster in Mohenjo-Daro, 2500
v. Chr.).
• Verteidigungsmauern mit trennender Funktion (Jericho, 9000 v. Chr.; Dicke 3 m, Höhe
5 m).¶ $• Taxonomien „nützlicher-schädlicher” Arten (ägyptischer Papyrus aus Memphis,
2400 v. Chr.: 37 katalogisierte schädliche Tiere).¶ $• Anhäufung von Überschüssen
(Getreidespeicher von Çatalhöyük, 6000 v. Chr.: Fassungsvermögen 12 Tonnen gegenüber
einem Jahresbedarf von 1,2 Tonnen).
Alternative Muster
• Keine Zeitmessung (San-Völker der Kalahari: Aktivitäten werden durch Licht/Jahreszeiten
und nicht durch Uhrzeiten geregelt).
• Kreisförmige Lager ohne vorgegebene Geometrie (Ethnografie der Buschmänner! Kung).
• Umweltdurchlässigkeit (Baka-Pygmäen: Wohnräume ohne physische oder konzeptionelle
Barrieren).
• Nicht-antagonistische Beziehungen zum Nicht-Menschlichen (Warlpiri: Erde als relationales
Subjekt; Nayaka: Tiere als „Personen”).
• Nicht-kompetitive Subsistenzwirtschaften (Hadza: Sofortige Verteilung ohne Anhäufung;
Batek: Ablehnung der Lagerung).
Dokumentierte Fakten
- Hyperkomplexität und Zusammenbruch (Catal Hüyük, 6000 v. Chr.: Dichte 10.000 Einwohner/km²
vs. dokumentierte Knochenepidemien)
- Ökologisches Versagen (Harappan-Städte, 1900 v. Chr.: Versalzungsschichten in Mohenjo-Daro).
- Anpassung in der Krise (Aché-Völker während des Zusammenbruchs der Inka: Waldanpassung
vs. Monumentalbauten).
- Rituelles Festhalten (Hopi vs. Chaco Canyon: flexible Regenzeremonien vs. starre
Bewässerung).
Anthologie André Leroi-Gourhan
3. Der Abstractionsprozess: Verwandte, bewegliche und konflikthafte Komponenten
Der Prozess ist weder linear noch monozentrisch: er entsteht aus verschiedenen und autonomen Zentren und Ausstrahlungskomponenten, die sich in mitunter stark konflikthaften Formen ausbreiten. Die Geschichte verzeichnet Unterbrechungen, partielle Blockaden, Rückschritte — wie nach dem Fall des Römischen Reiches —, aber auch Widerstände und bewusste Versuche, nicht nur von unten, ihn zu verzögern oder aufzuhalten (wie China, das den militärischen Einsatz des Schwarzpulvers blockierte), wodurch eine Wiederbelebung der Gemeinwesen und der Lebensprozesse möglich wurde. Dies verhindert rein lineare Deutungen. ¶ Eine genealogische Analyse kann langfristige Kontinuitäten aufzeigen, ohne Notwendigkeit zu implizieren: einen Ursprung zu identifizieren bedeutet nicht immer, einen Ausgang vorherzusehen. In der Medizin ist es üblich, retrospektiv frühe und entfernte Anzeichen einer Krankheit zu suchen und zu finden — wie bei Krebs oder Alzheimer — nicht aus der deterministischen Annahme, dass sich alle Pathologien zwangsläufig entwickeln müssen, sondern weil Immunsystem, Lebensweise und therapeutisches Eingreifen sie verlangsamen, blockieren oder beseitigen können. Ebenso verhält es sich mit dem Abstraktionsprozess: seine Bahn zu beschreiben bedeutet nicht, seine Unausweichlichkeit festzuschreiben.
Anthologie Ludwig Wittgenstein, Jacques Camatte
3.1. Religion
Als Verbindung von Weltanschauung und rituellen Praktiken ist die Religion historisch eng mit dem Staat verknüpft, mit dem sie durch eine doppelte anthropomorphe Bewegung entsteht. Sie gründet sich auf das Versprechen, einen verlorenen Urzustand wiederherzustellen, und ist daher Teil des allgemeinen Prozesses: bald beansprucht sie, ihn zu leiten, bald ihn zu zügeln oder zu blockieren.
Nicht-redeptive Religionen teilen mit dem Staat den Versuch, die Kräfte zu lenken und zu kontrollieren, die dem Abstraktionsprozess zugrunde liegen — dessen destruktives Potenzial sie oft erkennen —, und stellen sich als katéchon, aufhaltende Macht, dar. In den redemptiven Religionen wird die bremsende Rolle, sofern sie die Abstraktion nicht selbst fördern, vor allem zu einer dämpfenden Funktion, die eine ausgewogenere Entwicklung des Prozesses gewährleisten soll.
Eine Digression ist nötig: Effekte, die einen negativen Prozess verzögern oder zeitweilig blockieren, dürfen weder in der Medizin noch in der geschichtlichen Realität geringgeschätzt werden, sondern sind als wertvolle Möglichkeiten zu betrachten; die Verzögerung selbst kann zudem unerwartete Chancen eröffnen.
Anthologie Jacques Camatte
3.2. Staat
In seiner ersten Form entsteht der Staat durch eine Trennung der Gemeinschaft, die eine übergeordnete Einheit (Pharao, Lugal, König der Könige usw.) hervorbringt, die diese Gesamtheit repräsentiert. Dies geschieht im selben Moment, in dem die Bewegung des Wertes als Prozess der Wertsteigerung einsetzt. Gleichzeitig findet eine Anthropomorphose der Gottheit und eine Divinomorphose der höheren Einheit statt, und es entsteht die Religion. ¶ Anschließend setzt sich eine zweite Form durch, die durch die Fortsetzung der Wertbewegung bestimmt wird, ein Phänomen, das nicht ausschließlich auf den wirtschaftlichen Bereich reduziert werden kann.
Anthologie Jacques Camatte
3.2.1. Stadt
Die Stadt ist die räumliche Verkörperung des Staates und des Wertes: eine Umfriedung, die trennt und organisiert, das Leben geometrisiert und das Territorium in ein Raster verwandelt. Die ersten Städte entstanden als gleichzeitige Schutz-, Macht- und Akkumulationsinstrumente: mächtige Mauern, zentrale Getreidespeicher, Tempel. ¶ Die Stadt trägt von Anfang an das implizite Versprechen der Unsterblichkeit in sich: über Körper und Jahreszeiten hinaus zu bestehen, eine zweite Natur zu bieten, die stabiler ist als die Natur selbst. ¶ Sie definiert sich gegen das Land: wenn nicht durch offene Verachtung für die Bauern, dann immer durch Formen der Distanzierung, die evolutionäre, kulturelle und moralische Überlegenheit signalisieren.
Anthologie
3.2.1.1. Tod der Stadt
Die Stadt stirbt nicht durch einen plötzlichen Zusammenbruch, sondern durch die Auflösung ihrer kompakten Form: die Explosion der Grenzen, die unendliche Ausbreitung, die diffuse Stadt. Das Zentrum verliert seine Bedeutung; das Urbane löst sich in digitalen Strömen auf (Smart Working, E-Commerce, verteilte Überwachung). ¶ Ihr Tod fällt mit der Erfüllung ihres Zwecks zusammen: Die Mehrheit der Menschheit ist mittlerweile urbanisiert, die Trennung vom Lebendigen ist vollständig. Was die Stadt versprochen hat – Sicherheit, Ordnung, Dauerhaftigkeit – wird verinnerlicht und verbreitet sich überall: keine sichtbaren Mauern mehr, sondern unsichtbare Netzwerke; keine Plätze mehr, sondern Plattformen.
Anthologie
3.2.2. Tod des Staates
In seiner extremen Ausprägung wird der Staat zunehmend vom Kapital und vom technischen System kontrolliert und durch die Übertragung von Funktionen und Befugnissen an „autonome” oder überstaatliche Organisationen ausgehöhlt. Während Gesetze, Vorschriften und Kontrollen unbegrenzt zunehmen, schwindet die tatsächliche politische Macht.
Anthologie
3.3. Privateigentum
Der Begriff des Privateigentums geht weit über den ausschließlichen Besitz hinaus – der auch in der Natur vorkommt und immer konkret, begrenzt und situationsabhängig ist – und beinhaltet eine oft kontrafaktische Vorstellung von der vollständigen Trennung des Objekts von seinem Existenzkontext (symbolisch dafür ist der Fall des Landbesitzes) und die ebenso kontrafaktische Vorstellung von der Unendlichkeit: eine übertragenen Form der Unsterblichkeit.
Anthologie Karl Marx, Costantinos Kavafis
3.3.1. Vom Eigentum zur Miete - Tod des Privateigentums
Das Eigentum wird durch seine funktionale Entleerung überholt. Der Besitz wird zu einer vorübergehenden Verwaltung, einer bedingten Nutzung, einem kostenpflichtigen Zugang. Das Objekt gehört nicht mehr jemandem, sondern zirkuliert in einem geschlossenen System kontrollierter Verfügbarkeit.
Anthologie
3.4. Wert
Der Wert ermöglicht es, das Unvergleichbare zu vergleichen. Alles wird nach einem einzigen Parameter quantifiziert. Der Wert löst Qualität, Kontext und Bedeutung auf und reduziert das Sein auf eine Zahl.
Anthologie Karl Marx, Carl Schmitt, Jacques Camatte
3.4.1. Gebrauchswert • Tauschwert
Der Gebrauchswert ist keine natürliche Eigenschaft der kommerzialisierten Realität, sondern ein Konstrukt, das dem Tauschwert ähnelt: Es handelt sich um komplementäre Formen derselben Äquivalenzlogik. Beide reduzieren die Realität auf eine messbare Funktion und trennen sie von ihrer lebendigen und qualitativen Beziehung.
Anthologie Guy Debord, Jean Baudrillard, Alasdair MacIntyre, Jacques Camatte, Robert Kurz
3.4.2. Robinson
Robinsonaden sind künstliche Erzählungen, die wirtschaftliche Bewegungen vom isolierten Individuum ableiten. Figuren wie der einsame Produzent oder der primitive Tauschhändler sind logische Konstrukte, die die stets soziale Natur der Wirtschaft und die Historizität des Wirtschaftsprozesses verschleiern.
Anthologie
3.4.3. Ware
Ware ist alles, was aus seinem natürlichen Kontext herausgelöst und abstrahiert werden kann und verkauft und gekauft werden kann. Boden, Gegenstände, Tiere, Menschen, Dienstleistungen, Arbeit, Ideen, Rechte, Patente, sowohl ganz als auch in Teilen, sowohl für unbegrenzte als auch für begrenzte Zeit. Alles kann verkauft werden.
Anthologie Fredy Perlman
3.4.4. Entfremdung
Dynamik, durch die das Eigene fremd und oft feindlich wird. Die Produkte menschlicher Tätigkeit – Gegenstände, soziale Beziehungen, Organisationsformen – verselbstständigen sich, stellen sich als separate und dominierende Mächte dar. Was als Erweiterung unserer Fähigkeiten entstand, verwandelt sich in Enteignung: Dinge übernehmen die Rolle von Subjekten, Menschen werden zu Dingen. Diese Umkehrung erzeugt eine ihrem Schöpfer feindliche Figur und einen oft unbewussten Mechanismus, der den ursprünglichen Zweck umkehrt und Männer und Frauen in einem Schicksal gefangen hält, das sie vermeiden wollten.
Anthologie Günther Anders, Giorgio Agamben, Jacques Camatte
3.4.5. Ware ausgeschlosse • Äquivalent
Um alle Waren messen und vergleichen zu können, muss eine von ihnen aus dem normalen Handel herausgenommen und zum universellen Maßstab, zum allgemeinen Äquivalent erhoben werden. So wird Gold zu Geld, indem es aufhört, eine Ware unter vielen zu sein: Durch seinen Ausschluss wird es zum Vertreter aller möglichen Waren. ¶ Dieser Mechanismus – Ausschluss, der zur Erhebung führt – funktioniert nicht nur in der Wirtschaft. Abstrakte Konzepte fungieren als allgemeine Äquivalente des Denkens: Der „Mensch” der universellen Rechte setzt den Ausschluss konkreter Menschen voraus – Frauen, Sklaven, Barbaren, Kolonisierte –, um sich dann als ihr idealer Vertreter zu positionieren.
Anthologie Jacques Camatte
3.5. Geld
Geld ist die Verkörperung von Wert. Es ist Maßstab, Tauschmittel, Reserve, Macht: die Macht, alles zu erwerben, was zur Ware geworden ist. Es ist mobil, neutral, unpersönlich und hat in seiner ursprünglichen Form die unendliche Haltbarkeit von Gold: eine Abstraktion, die konkret geworden ist und die man in der Tasche mit sich tragen kann.
Anthologie Karl Marx, Georg Simmel, Alfred Sohn-Rethel
3.5.1. Darlehen • Kredit • Verschuldung • Versicherung
Der Kredit nimmt den zukünftigen Wert vorweg, die Schuld belastet die Zukunft, die Versicherung monetarisiert die Angst vor dem Zufall. Zusammen erweitern sie die Herrschaft des Wertes auf die zeitliche Dimension und erzeugen die Illusion einer vollständigen Kontrolle über das Werden.
Anthologie Karl Marx, Jacques Camatte
3.5.2. Reale Abstraktion
Die Abstraktion bleibt nicht im Bereich der Ideen, sondern materialisiert sich konkret. Zwei Beispiele: Geld stellt einen in physischer Form verkörperten Wert dar: Nicht das Metall oder das Papier ist wichtig, sondern die universelle Äquivalenzkraft – also die Kaufkraft –, die es mit sich bringt. Das Fernsehen ist kein einfaches Haushaltsgerät, sondern eine Form, die die Wahrnehmung strukturiert und ebenfalls ein illusorisches Gefühl undifferenzierter Macht vermittelt. Abstraktionen verkörpern sich in Objekten, Räumen und Verhaltensweisen und werden zu materiellen Kräften, die die Erfahrung organisieren.
Anthologie Karl Marx, Alfred Sohn-Rethel, Jaime Semprun, Marco Iannucci
3.5.3. Unsterblichkeit ( Geld gesucht)
Der Wert verspricht Beständigkeit. Er bewahrt, sammelt, widersteht der Zeit. In ihm spiegelt sich der Wunsch wider, nicht zu sterben. Harpagon träumt davon, so lange zu leben wie seine Schätze, die Hortung sucht in der des Goldes ihre eigene Unsterblichkeit.
Anthologie Karl Marx
3.6. Das Kapital
Kapital ist ein Wert, der sich vermehrt: Es ist kein Gegenstand, sondern eine soziale Beziehung in Bewegung. Seine Logik ist das unbegrenzte Wachstum.
Anthologie Jacques Camatte, Marco Iannucci
3.6.1. Krematik
Die unbegrenzte Anhäufung von Reichtum um seiner selbst willen, ohne Verwendungszweck, definiert die chrematistische Logik. Das Ziel löst sich auf. Nur das Wachstum zählt. Überfluss ist Tugend.
Anthologie Aristotélēs
3.6.2. Überschusswert
Der Mehrwert ist der Teil der Produktion, der über den an den Arbeiter zurückgegebenen Wert und die Gemeinkosten hinausgeht und vom Kapital absorbiert wird. Er ist der Motor der Akkumulation.
Anthologie Jean Vioulac, Stephen Smith
3.6.3. Autonomisierung • Automatisches Subjekt
Das Kapital wird autonom: Es wird zu einem automatischen Subjekt. Es handelt sich um eine sich selbst tragende Bewegung, wie ein Wirbel mit eigener Energie, Masse und Richtung.
Anthologie Joseph de Maistre, Karl Marx, Ludwig Klages, André Leroi-Gourhan, Jacques Camatte, Jean Vioulac
3.6.4. Die Ware Kapital
Im Bereich des Kapitals ändert die Ware ihren Status: Sie muss nicht mehr haltbar sein, sondern im Umlauf bleiben. Die Haltbarkeit, die einst den Wert steigerte, wird zum Hindernis und wird unterbunden. Jeder Gegenstand ist so konzipiert, dass er auf verschiedene Weise, auch durch gesetzliche Maßnahmen, überholt wird, um den Kapitalkreislauf kontinuierlich wieder in Gang zu setzen.
Anthologie Giorgio Cesarano & Gianni Collu, Jacques Camatte
3.6.5. Unsterblichkeit (gesucht im Kapital)
Die Idee der Unsterblichkeit, die zu Zeiten der Vorherrschaft des Wertes, der der Beständigkeit des Goldes zugeschrieben wurde, auf die Beständigkeit des Kapitalkreislaufs übertragen wird.
Anthologie Karl Marx, Jacques Camatte
3.6.6. Tod des Kapitals
Wie das Kapital den Staat aufgelöst und den Begriff des Wertes entleert hat – der eine Beständigkeit voraussetzte und daher der Zirkulation entgegenstand – stirbt es, wenn es sich nicht mehr selbst verwerten kann. Doch das Kapital ist nicht der Abstraktionsprozess: Dieser und sein Modus Operandi setzen sich fort, sei es durch die Einverleibung des Kapitals in das technische System oder umgekehrt, oder durch einen verschlungenen Paso doble zwischen beiden Komponenten, in seinem globalen Prozess der Phagozytose bis in die einzelnen Zellen des Menschen hinein. ¶ Es wird hier keine abgeschlossene Theorie vorgelegt, sondern die Feststellung von Spuren und Symptomen, sichtbar für jene, die hinsehen: Der Prozess selbst scheint auf das Aussterben der Spezies zuzusteuern, die ihn in Gang gesetzt hat. Es sei denn, es kommt zu einer unwahrscheinlichen Reaktion eben dieser Spezies. Unwahrscheinlich – es sind keine Anzeichen erkennbar, außer schwachen – aber nicht unmöglich: Die tatsächlichen Mechanismen der Entstehung und des Fortbestehens von Arten sind im Grunde unbekannt. Manchmal werden Reaktionen durch extreme Situationen ausgelöst, durch die Wahrnehmung realer Aussterberisiken, wie es möglicherweise beim Übergang zum Neolithikum geschah, als die Menschheit – vielleicht angesichts einer tiefgreifenden Umweltkrise – eine radikale Transformation ihrer Lebensweisen vollzog, die den Abstraktionsprozess offen in Gang setzte.
Anthologie Jean Baudrillard, Jacques Camatte
3.7. Das technische System (Organisation, Technik, Wissenschaft, Medizin), d. h. die Produktivkräfte
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Abstraktionsprozesses, der nun im Vordergrund steht: die Organisation, die Subjektivität neutralisiert, Maschinen, die den Menschen ersetzen, Wissenschaft, die auf technische Macht reduziert wird, Zeit, die in ein operatives Raster verwandelt wird.
Anthologie Simone Weil, Jacques Camatte
3.7.1. Organisation • Bürokratie
Die Organisation schafft Strukturen, die Subjektivität neutralisieren und die Arbeitsabläufe standardisieren. Jede Tätigkeit wird in abstrakte Verfahren eingeordnet, die durch unpersönliche Kriterien geregelt sind. Mit der Bürokratie wird die Organisationsform dominant. Die Organisation strebt nach unbegrenztem Wachstum, das dem des Kapitals vorausgeht.
Anthologie Amadeo Bordiga, Lewis Mumford, Jacques Camatte & Gianni Collu
3.7.2. Megamaschinerie
Die Megamaschine ist die integrierte Gesamtheit von Menschen und Werkzeugen in einem einheitlichen Funktionssystem. Sie ist nicht die Summe von Maschinen, sondern eine Gesamtheit, die Körper, Regeln, Ströme und Ziele umfasst. Jedes Element ist ihr untergeordnet.
Anthologie Lewis Mumford, Jaime Semprun
3.7.3. Abstrakte Zeit
Die gelebte Zeit wird durch eine messbare, homogene, kumulative Zeitlichkeit ersetzt. Die abstrakte Zeit ist keine Erfahrung, sondern ein operatives Raster. Jedes Ereignis muss sich in diese einheitliche und qualitätslose Struktur einfügen.
Anthologie Karl Marx, Guy Debord, Jacques Camatte & Gianni Collu, Jacques Camatte
3.7.4. Die Maschinen
Die Maschine zerlegt, wiederholt, automatisiert, macht Subjektivität überflüssig. Sie ersetzt menschliche Tätigkeiten durch ihre Vorgänge. Die Automatisierung ist die vollendete Form der technischen Abstraktion, in der der Mensch zum Terminal eines Geräts wird, das ihn übertrifft und überragt und das Prinzip der Nützlichkeit der Technik in das Prinzip der Nützlichkeit für die Technik umkehrt.
Anthologie Karl Marx, Jean Baudrillard
3.7.5. Abstrakte Wissenschaft
Die moderne Wissenschaft beschreibt nicht mehr eine bewohnbare Realität, sondern konstruiert formalisierte Funktionsmodelle und schafft so eine zunehmend unverständliche Welt. Sie trennt sich von der lebendigen Arbeit und wird zum Eigentum des Kapitals: Die intellektuellen Funktionen der Produktion konzentrieren sich gegen die Arbeiter und verwandeln sich in eine von der Arbeit selbst unabhängige Produktionskraft. ¶ Das wissenschaftliche Objekt wird auf Mengen, Gesetze und Algorithmen reduziert. Die Welt wird zu einem Labor und einer Mine, die es auszubeuten gilt: Die Forschung sucht nicht mehr nach dem Wesen der Dinge, sondern nach ihrer geheimen Verwendbarkeit. Wissen wird zu technischer Macht und teilt mit der Marktwirtschaft dieselbe quantitative Logik. Und die Umwandlung der gesamten Realität in eine Reihe von parametrisierten und kontrollierten Verfahren zerstört letztendlich die Wissenschaft selbst und macht sie zu einem bloßen proaktiven und gedankenlosen Eingriff.
Anthologie Karl Marx, Günther Anders, Alfred Sohn-Rethel
3.7.6. Prothetik und Therapeutik
Prothesen, in der Natur als operative Hilfen verbreitet, neigen heute dazu, jede menschliche Fähigkeit zu ersetzen. Was einst direkt durch Körper und Geist geleistet wurde, wird durch Werkzeuge und Vermittlungen ersetzt. ¶ Der heutige Höhepunkt ist die Auslagerung kognitiver Funktionen in künstliche Geräte statistischer Optimierung, denen Vorhersagemacht zugeschrieben wird (KI). So verselbständigen sich die natürliche Disposition und Tätigkeit der Therapeutik zu einem System mit eigener Logik, gerechtfertigt durch verfälschte Metriken und durch jene alte Neigung, lieber das Nichts zu wollen als nicht zu wollen, die die Kosten-Nutzen-Kalkulation immer stärker im Sinne des Systems und nicht des Menschen lenkt.
Anthologie Marcus Valerius Martialis, Karl Marx, Günther Anders, Stefano Isola
4. Modus operandi des Prozesses
In der reifen Phase lassen sich rückblickend drei zentrale Modalitäten identifizieren: der ideale Antrieb des erlösenden Motors, der Mechanismus der Kombinatorik und die Subsumtion, die ihn nährt.
Anthologie
4.1. Erlösungstrieb
Der Boden, auf dem sich der Prozess entwickelt, wird durch die Kritik des gegenwärtigen Zustands der Dinge bereitet, gegründet auf abstrakte Ideen redemptiven Ursprungs, die auch zu einer redemptiven Ethik wurden und dann in der Geschichte von Subjekten und kollektiven Kräften vollzogen wurden, die von der Anthropomorphose durchzogen sind. Das Phänomen wirkt sowohl in den langen Zeiten der Kontinuität als auch in den Übergängen der Krisen (Kriege, Revolutionen, Epidemien, Hungersnöte).
Anthologie
4.2. Kombinatorik
Ein Begriff aus der Mathematik. In diesem Fall ist die Kombinatorik der Mechanismus, durch den jeder Aspekt des Lebens – Praktiken, Kenntnisse, Gesten, Emotionen, Beziehungen – in minimale, getrennte, vereinfachte Einheiten zerlegt und für eine unendliche Neuordnung, eine kombinatorische Berechnung, verfügbar gemacht wird. Jedes Element verliert seine Verwurzelung, seine eigentliche Bedeutung, seinen ursprünglichen Platz: Es wird zu einem beweglichen, anpassungsfähigen, austauschbaren Modul. ¶ Im Laufe einer jahrhundertelangen Bewegung wird alles nach und nach zerlegt und neu kombiniert. Das Ziel ist die operative Kompatibilität: Was zählt, ist, dass alles zusammensetzbar, flexibel und bereit für die Interaktion ist. Die Kombinatorik ist die im Alltag wirkende Abstraktion. ¶ Die Realität erscheint dann als ein technisches Repertoire austauschbarer Möglichkeiten: Sexualität, Sprache, Pflege, Lernen, Vorstellen – alles kann kombiniert werden. ¶ Diese Logik betrifft auch die Alltagssprache: Auf sprachlicher Ebene fungieren die Plastikwörter wie Legosteine, um die Alltagssprache in ein bedeutungsloses, aber von Maschinen verwaltbares Kombinationsspiel zu verwandeln.
Anthologie Jean Baudrillard, Jacques Camatte
4.3. Immer stärkere Subsumtion der Arbeit
Das Kapital eignet sich zunächst bereits bestehende Arbeitssituationen an – der Handwerker wird zum Lohnarbeiter in der Manufaktur, behält aber seine Arbeitsweise bei –, die formal unverändert bleiben, aber seiner Logik unterworfen sind: Es handelt sich um eine oberflächliche, anfängliche Subsumtion. Anschließend wird die Arbeit nach Kriterien der Produktivität und Wirtschaftlichkeit neu organisiert, die technische Arbeitsteilung vertieft sich, die Wissenschaft wird vom Arbeiter getrennt und in den Händen des Kapitals zu einer autonomen Kraft. ¶ Die intellektuellen Fähigkeiten, die einst unter den unabhängigen Produzenten verbreitet waren, konzentrieren sich nun in der kapitalistischen Führung. Der Arbeiter wird parteiisch, das Wissen wird extern und steht dem Arbeiter als Macht gegenüber, die ihn beherrscht. ¶ Der Prozess ist kontinuierlich: Jeder Wirtschaftszweig – auch die ursprünglich autonomen oder widerständigen – wird nach und nach umgewandelt und in die kapitalistische Logik zurückgeführt.
Anthologie Karl Marx
4.3.1. Ausweitung der Subsumtion auf die Freizeit, die Gesellschaft, den Körper
Die Herrschaft des Kapitals vertieft sich, wenn sich die Logik der Wertsteigerung über die Arbeitszeit hinaus ausdehnt und das gesamte Leben kolonisiert: Freizeit, soziales Leben, Kommunikation, Sprache und Körper. Die Zeit wird umstrukturiert: Freizeit wird zu Konsumzeit, und der Konsum selbst wird zu einer produktiven Funktion. Digitale Technologien, Automatisierung und weit verbreitete Kontrolle beschleunigen diesen Prozess: Geistige und emotionale Fähigkeiten, Aufmerksamkeit, Sprache und Beziehungen werden zur Arbeit herangezogen. Nicht mehr nur die manuelle Arbeit wird ausgebeutet, sondern auch die Ausdruckskraft und Sensibilität des Individuums. Der Körper, geprägt von Effizienz und normierter Gesundheit, wird seinerseits in Wert gesetzt. So löst sich die Unterscheidung zwischen Produktion und Leben auf: Die gesamte Gesellschaft wird zum Terrain der Wertsteigerung, und die proletarische Lage generalisiert sich auf die gesamte Bevölkerung.
Anthologie Jacques Camatte & Gianni Collu, Jacques Camatte, Giorgio Cesarano & Gianni Collu
5. Ergebnisse und Ziele des Prozesses
Das angestrebte Ergebnis des Prozesses: die schrittweise Ersetzung der menschlichen Gemeinschaft, des Menschen selbst und der Natur durch abstrakte und körperlose Systeme. Kein bewusstes Vorhaben, sondern die immanente Logik einer Bewegung, die auf die Selbstzerstörung der Spezies zusteuert, die sie hervorgebracht hat.
Anthologie Ludwig Klages, Jean Baudrillard
5.1. Unterdrückung und Verdrängung der Gemeinschaft • Materielle Gemeinschaft
Die Gemeinwesen wird zergliedert und ersetzt. Das Kapital wird zur materiellen Gemeinschaft: jeder Aspekt des Lebensunterhalts wird Ware, nur durch Geld zugänglich. Brot, Milch, Kleidung, Pflege, ja selbst Wasser — alles verlangt die Geldvermittlung.
Anthologie Karl Marx, Jacques Camatte & Gianni Collu, Jacques Camatte, Marco Iannucci
5.1.1. Gemeinwesen
Die Gemeinwesen ist der Nährboden des Menschen: ein Netzwerk lebendiger Beziehungen, das die Menschen untereinander, mit der Erde, den Tieren, den natürlichen Kreisläufen, der Ernährung, der Pflege, der Sprache und den Rhythmen des Lebens verbindet. Es handelt sich dabei nicht um ein Ideal, das wiederhergestellt werden muss, sondern um eine elementare Realität, die das menschliche Leben seit Zehntausenden von Jahren ermöglicht. ¶ Historische und anthropologische Zeugnisse belegen ihre konkrete, niemals utopische Vielfalt. Die Abstraktion löscht nach und nach die Möglichkeit des „Miteinanders” aus: Der Verlust der Gemeinschaft ist auch ein Verlust der gemeinsamen Präsenz, der Gewissheit der eigenen Positionierung. So verschwindet die Realität des irdischen Glücks – das für Epikur auf Freundschaft basiert, einer elementaren, dauerhaften und wechselseitigen Form der Beziehung.
Anthologie Karl Marx, Jacques Camatte
5.1.2. Die große organische und kosmische Gemeinschaft
Die Gemeinde umfasst die Natur, die Menschheit, die lebendige Realität und den Kosmos. Mittlerweile wird immer deutlicher, dass der Mensch selbst ein symbiotisches Aggregat ist, nicht nur die Mikrobiota: bis ins Innerste seiner eukaryotischen Zellen. Aber es ist unmöglich, in dieser lebendigen Kontinuität genaue Grenzen zu ziehen: Wo endet das Individuum und wo beginnt die Umwelt? Die Idee des autonomen Individuums widerspricht unserer symbiotischen Beschaffenheit. Sie kennt keine Trennung zwischen Subjekt und Umwelt, zwischen Mensch und Nicht-Mensch.
Anthologie Pëtr Kropotkin, Marco Iannucci
5.2. Löschung und Ersetzung des Menschen
Der Mensch wird immer mehr überflüssig. Die Subjektivität wird zu einem operativen Knotenpunkt, der Körper zu einer Schnittstelle, die Identität zu einem Profil. Der Mensch wird zu einem funktionalen Überbleibsel, zu einem „veralteten Gerät zur Kapitalvermehrung”, das dazu bestimmt ist, ausgemustert zu werden. Das Kapital, das zu einem automatischen Subjekt geworden ist, beschränkt sich nicht mehr darauf, auszubeuten: Es strebt nach Ersatz. Die Funktionalisierung des Menschen ist nur die erste Phase. Es folgen die erklärte Obsoleszenz – in der Millionen von Leben „nicht mehr notwendig” sind – und der geplante Ersatz durch Automatisierung, künstliche Intelligenz und Gentechnik. ¶ Es handelt sich nicht mehr nur um Entfremdung, sondern um Auslöschung. Es ist eine technische Deaktivierung, die als Verbesserung dargestellt wird (wie es bei der fortschreitenden Ersetzung lebenswichtiger Funktionen durch automatisierte Instrumente der Fall ist).
Anthologie Gustav Janouch, Armand Robin, Amadeo Bordiga, Roberto Pecchioli
5.3. Löschung und Ersetzung der Natur
Die Natur wird zu einer Ressource degradiert, die Umwelt zu einem technischen Objekt. Sie hat keinen Sinn mehr an sich, sondern nur noch eine instrumentelle Funktion: Die lebendige Realität wird durch künstliche Umgebungen ersetzt und mineralisiert.
Anthologie Ludwig Klages
Anmerkung
Vergessen wir nicht, dass alle Zeit gesegnet ist, auch unsere, die uns zum Leben gegeben wurde. Ivan Illich (mündliche Überlieferung)
Der Tod ist nichts für uns, denn wenn wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr da. Epikur (Brief an Meneceus)
Der Tod siegt also niemals: Der Tod ist kein Teil des Lebens. Und solange wir atmen, gibt es Präsenz und Freude. Wie in jedem Lebensprozess, auch einem durch Krankheit beeinträchtigten, behält der Organismus grundlegende Lebensfunktionen bei. Der Tumor schafft kein eigenes Kreislaufsystem, er parasitiert das vorhandene. Er erzeugt kein tumorales Herz, er nutzt das gesunde aus. Das Leben, so erschöpft es auch sei, bleibt Leben. Das Gemeinwesen ist konstitutiv für den Menschen: Wenn es der Abstraktion gelungen wäre, es vollständig zu eliminieren, würde das Zusammensein das Ende der Menschheit bedeuten. Jacques Camatte nannte sein Haus und das Land, das er bewirtschaftete und wo er Familie und Freunde empfing, «Le domaine de la certitude» (das Reich der Gewissheit). Auch die Gewissheit, das Festhalten an der Ewigkeit, stirbt nicht. Es ist das Gefühl, sie verloren zu haben, das uns desorientiert.
Eine Diagnose, die mit einem Tumor im vierten Stadium vereinbar ist – auch wenn man sich der sehr geringen, aber realen Möglichkeit einer Wende bewusst ist –, zwingt den Diagnostiker, wenn er sie mitteilen muss, das wahrscheinliche Ergebnis auf das sichere Ergebnis jeder Form von Leben, einzeln und kollektiv, einschließlich seines eigenen, zurückzuführen. Und den Weg der Akzeptanz als reale und gegenwärtige Möglichkeit bewusster und aktiver Gelassenheit aufzuzeigen. Ein Weg, der an sich schon ein Hinweis, ein Anfang und eine Stütze für die erhoffte – unwahrscheinliche, weil nur schwache Anzeichen dafür zu sehen sind, wie die kognitive Spaltung und der unerwartete Widerstand während der Pandemie, aber nicht unmögliche – Reaktion der Spezies ist.
Anthologie
Wehrlos, doch in nichts vernichtet
Inerme, ma in niente annientato
(Der christliche Epimetheus
Konrad Weiß)
www.ilcovile.it